Karl
SIEGER

1910 - 1960 I
Tenbrinkstraße 1
Stolperstein verlegt am 13.09.2015
Karl SIEGER Tenbrinkstraße 1

Zwangssterilisation, KZ-Haft und die Rückkehr nach Konstanz

Karl Sieger hatte eine schwere Kindheit. Sein Vater Martin Sieger, der bei der Stadt als Arbeiter beschäftigt war, hatte Alkoholprobleme. Seine Mutter Marie, geb. Schuler, war Hausfrau. Karl Sieger hatte keine Berufsausbildung und arbeitete mit Unterbrechungen mehrere Jahre als Austräger bei einer Molkerei in Kreuzlingen, sowie als Hilfsarbeiter in verschiedenen Betrieben in Konstanz. Von 1930 bis 1933 war er auf Wanderschaft in Bayern, Preußen und in der Schweiz. Schon vor 1930 stand er unter Aufsicht der städtischen Trinkerfürsorge. 1933 war er ein halbes Jahr beim Reichsarbeitsdienst in Nauen (Preußen) eingesetzt, aus dem er wegen eines Leistenbruchs frühzeitig entlassen wurde. „Sieger hat sich im Lager einwandfrei geführt, auch waren seine Leistungen befriedigend“, so hieß es in seiner Beurteilung. Danach war er in Konstanz als Hilfsarbeiter tätig, zuletzt 1936 beim Bau der Cherisy-Kaserne.

In den 1930er Jahren kam Sieger wegen seiner Alkoholprobleme immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Mehrere mehrtägige Haftstrafen wegen Erpressung, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Trunkenheit, Ruhestörung, Bettelei und Verdacht der Zuhälterei – weil er mit einer Prostituierten zusammenlebte, sind aktenkundig.

Wenige Monate nach ihrer Machtübernahme erließen die Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Das Gesetz sah die zwangsweise Sterilisation von geistig oder körperlich behinderten Menschen vor, die an bestimmten „Erbkrankheiten“ litten wie angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Chorea Huntington), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit oder schwerer erblicher körperlicher Missbildung. Aber auch Alkoholkranke sollten zwangssterilisiert werden. In der Begründung des Gesetzes wurden im Reichanzeige vom Juli 1933, Nr. 172, auch „Hilfsschüler“ und „Asoziale“ genannt. Für die Zwangssterilisation waren die Erbgesundheitsgerichte zuständig.

Für Konstanz, Radolfzell, Singen und Überlingen war das Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Konstanz zuständig – so bestimmte es die Verordnung des badischen Justizminister Dr. Wacker vom 18. Dezember 1933. Während des Nationalsozialismus wurden in Deutschland etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert; bei den Eingriffen starben etwa 5.500 Frauen und 600 Männer.

Es konnte nicht ausbleiben, dass Karl Sieger als verhaltensauffälliger Alkoholiker bald in das Visier des Erbgesundheitsgerichts Konstanz geriet. Anfang April 1936 wurde Karl Sieger von Dr. Rechberg, dem Leiter des Konstanzer Gesundheitsamtes, untersucht. Obwohl Siegers Arbeitszeugnisse durchwegs gut waren, fällte Rechberg in seinem Gutachten ein vernichtendes Urteil über ihn: “Insgesamt ergibt sich das Bild eines labilen, haltlosen Psychopathen, der überdies an einer schweren Trunksucht leidet. Von besonderer Bedeutung ist auch die gleichzeitige Belastung in der Familie (Vater Trinker, zwei Brüder offenbar schwachsinnig). Sieger ist somit erbkrank im Sinne des Gesetzes.“ Rechberg war ein eifriger Befürworter der nationalsozialistischen Rasseideologie, auf seine Veranlassung hin wurden 450 bis 500 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau zwangssterilisiert.

Am 4. Mai 1936 fasste das Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Konstanz unter dem Vorsitz von Amtsgerichtsrat Dr. Gerbel und den Beisitzern Dr. Kohler aus Überlingen und dem prakt. Arzt Dr. Freiherr Hofer von Lobenstein aus Konstanz folgendes Urteil: „Der ledige Hilfsarbeiter Karl Sieger … ist wegen angeborenen Schwachsinns und schweren Alkoholismus unfruchtbar zu machen.“ In der Begründung heißt es dann lapidar: „Der Schwachsinn ist erwiesen nicht nur durch seine mangelhaften Schulleistungen, sondern auch durch sein Versagen auf dem Gebiet des allgemeinen Lebenswissens und der sittlichen Allgemeinvorstellungen“.
 
Gegen den Beschluss des Konstanzer Erbgesund­heitsgerichts legte Sieger am 26. Mai 1936 beim Erbgesundheitsobergericht Karlsruhe Einspruch ein. Die Erbgesundheitsobergerichte waren den Oberlandesgerichten angegliedert. In einem handschriftlichen und fehlerfreien Brief in gestochener Schönschrift und unterschrieben mit „Mit Deutschem Gruß, Heil Hitler“ bat er „inständig, mir Zeit zu lassen, um Ihnen zu beweisen, dass es auch ohne Alkohol geht, ersparen Sie mir die Schande.
 
Das Erbgesundheitsobergericht Karlsruhe wies den Einspruch von Karl Sieger zurück. „Die mangelhaften Schulleistungen und die erheblichen Ausfälle bei der Intelligenzprüfung durch das Gesundheitsamt Konstanz haben einen krankhaften geistigen Schwächezustand aufgezeigt, der medizinisch einwandfrei als „Schwach­sinn“ zu beurteilen ist.“ Karl Siegers Zwangsterilisation war nun nicht mehr abzuwenden. Am 25. Juni 1936 wurde er ins Städtische Klinikum Konstanz aufgenommen, nachdem er selbst „um beschleunigte Durchführung“ des Eingriffs nachgesucht hatte.
 
Am 26. Juli 1936 schließlich wurde Karl Sieger sterilisiert.
 
Über den weiteren Lebensweg von Karl Sieger gibt es nur wenige Anhaltspunkte. Im November 1939 diente er in Konstanz bei der Ersten Reserve-Kompanie. Von Anfang Januar 1941 gibt es eine Mitteilung der Truppen­entlassungsstelle in Ulm, dass der Gefreite Sieger wegen Schwachsinns entlassen werden soll. Offensichtlich war bekannt geworden, dass Sieger wegen angeblichen Schwachsinns zwangssterilisiert worden war. Außerdem hieß es, dass Karl Sieger beabsichtige, sich mit einer „nicht unfruchtbaren Frau“ zu verehelichen.
 
Mitte Januar 1941 wurde Sieger angewiesen, sich im Reserve-Lazarett Konstanz behandeln zu lassen. Offensichtlich hatte es Komplikationen infolge der Zwangssterilisation gegeben. Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht heiratete Karl Sieger im November 1942 Frieda, geb. Schutzbach, aus Pforzheim. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1945 wieder geschieden.
 
Von Juli 1942 bis Anfang März 1943 war Karl Sieger bei der Organisation Todt (OT) zwangsverpflichtet, eine nach militärischem Vorbild organisierte Bautruppe für die Realisierung von Schutz- und Rüstungsprojekten wie zum Beispiel dem Bau des Westwalls.
 
Im Februar 1944 wurde Sieger verhaftet und in das KZ Dachau überstellt. Als Grund für seine Verhaftung nannte er nach der Befreiung des KZ durch die 3. US-Armee 1945 „Streit in der Familie“. Auf seiner Personalkarte im KZ stand: „Schutzhäftling, politisch, Arbeitszwang-Reich“, das heißt, dass er ohne Gerichtsurteil aus politischen Gründen und zudem als „Arbeitsscheuer“ in das KZ eingeliefert wurde. Hatte sich Sieger mit politischen Äußerungen gegen das NS-Regime hervorgetan? Hatte seine Frau ihn angezeigt? Wir kennen die Gründe für seine Verhaftung nicht. Seine Häftlingsnummer in Dachau war 63996.
 
Karl Sieger wurde zwei Monate im Außenlager Uttendorf-Weißsee (im heutigen Nationalpark Hohe Tauern/Salzburg) eingesetzt, wo er in hochalpiner Lage (2300 Meter) Zwangsarbeit beim Bau eines Kraftwerks leisten musste.
 
Den Häftlingen wurden rote Punkte auf ihre dünne Kleidung genäht, damit ihre Bewacher bei Fluchtversuchen besser auf sie zielen konnten.
 
Nach Einstellung dieser Arbeiten wurde er Mitte Dezember 1944 in das KZ Buchenwald verlegt; hier hatte er die Nummer 49501.
 
Mitte Januar 1945 wurde Karl Sieger in das Außenlager „Heinrich Kalb“ in Bad Salzungen (Thüringen) zu Spreng-, Aufräumungs- und Betonierungsarbeiten verlegt. In einem Kalischacht in 300 Metern Tiefe mussten die Häftlinge eine Fertigungshalle für die Produktion von Rüstungsgütern der Firma BMW erstellen.
 
Anfang April 1945 erfolge in tagelangen Fußmärschen (ca. 150 km) die Rückverlegung in das Lager Buchenwald. Bei der Annäherung der US-amerikanischen Truppen vertrieben die Häftlinge am 11. April 1945 die SS-Wachen und befreiten sich selbst. Bei der Vernehmung durch die US-Amerikaner gab Karl Sieger an, er sei Kommunist; ob sich das nun auf seine Gesinnung oder Parteizugehörigkeit bezog, ließ sich nicht klären.
 
Karl Sieger war nun ein freier Mann und kehrte nach Konstanz zurück. Die Stadt Konstanz bewilligte ihm und anderen ehemaligen KZ-Häftlingen als „Willkommensgeschenk“ eine kostenlose medizinische Untersuchung und eine Barzuwendung von 500 Reichsmark. Für seine Haft im KZ und Zwangsarbeit sowie seine Zwangssterilisation erhielt er jedoch keine Entschädigung. Nach dem Rechtsverständnis der frühen 50er Jahre war er als angeblicher Asozialer zu Recht im KZ eingesperrt; für die Opfer der Zwangssterilisation richtete die Bundesregierung erst 1980 einen besonderen Fond ein, aus dem die Zwangssterilisierten einmalig 5 000 DM erhielten.Diese Zahlung erhielt aber nur, wer einen Antrag stellte und die Geschehnisse auch exakt belegen konnte. Ob Sieger die Entschädigung erhalten hat, konnte nicht geklärt werden.
 

Mitte der 50er Jahre übersiedelte Karl Sieger nach Meersburg, wo er Arbeit im Hotel „Wilder Mann“ fand und dort auch wohnte.
 
Am 21. März 1960 ist Karl Sieger in Konstanz gestorben.

Recherche: Uwe Brügmann
Patenschaft: Bürgergemeinschaft Petershausen

Quellen & Literatur:

ITS Arolsen.
Staatsarchiv Freiburg, Akten B 898/1, 524, B 132/1, 455, F 196/1, 1895.
Archiv Gedenkstätte KZ Dachau.
Archiv Gedenkstätte KZ Buchenwald.

Literatur:
Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945. Freiburg: Lambertus Verlag, 1993, S. 180.
Benz/Distel: Der Ort des Terrors, Band 3, München 2006, Das Außenkommando Bad Salzungen („Heinrich Kalb“), S. 379-380.
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