Vinzenz
KERLE

1884 - 1958 I
Fischerstraße 28
Stolperstein verlegt am 13.09.2015
Vinzenz KERLE Fischerstraße 28

Wegen „hochverräterischer Bestrebungen“ am 5. August 1935 von der Gestapo verhaftet

Vinzenz Kerle wurde am 17. Dezember 1884 in Konstanz geboren. Seine Eltern waren Andreas Kerle, gebürtig aus Meßkirch, und Theresa, geb. Spiri, vom Dürrain­hof bei Kaltbrunn, Kreis Konstanz. Er hatte vier Geschwister.

In Konstanz besuchte er die Volks­schule und die Handelsschule und machte bei der Firma August Rahn eine kaufmännische Ausbildung. Seinen Militärdienst leistete er von 1903 bis 1905 in Konstanz ab.

Danach verbrachte Kerle mehrere Jahre im Ausland, unter anderem in Paris und in London. Bei Kriegsausbruch 1914 war er in London. Mit einem Frachtdampfer setzte er am 3. August 1914 nach Amster­dam über. In Rotterdam meldete er sich beim deutschen Konsul, der ihn nach Wesel am Niederrhein schickte, wo er Soldat im Infanterie-Regiment Nr. 56 wurde. Von 1914 bis 1918 war er an der Westfront eingesetzt. Nach dem Krieg war Kerle vorübergehend arbeitslos und wohnte bei seiner Mutter.

Vinzenz Kerle war verheiratet mit Ida, geb. Schrand, aus Münster in Westfalen; das Ehepaar hatte zwei Söhne, Wolfram, geb. 7. April 1920, und Roland, geb. 25. Juni 1926, gefallen am 15. Oktober 1944 an der Ostfront.

1920 wurde Kerle Mitglied der KPD. Von 1922 bis 1930 vertrat er die KPD im Konstanzer Stadtrat (Bürgerausschuss). In seiner Eigenschaft als Stadtrat war er auch Leiter des Wohnungsamtes. Im Oktober 1925 kandidierte er für die KPD im Wahlkreis I (Konstanz und Umgebung) bei der Landtagswahl, wurde aber nicht gewählt. 1930 wurde Kerle aus der KPD ausgeschlossen, weil er mit der Übernahme des Gasthofes „Staader Fährhaus“ am 30. Juni 1928, kein Arbeiter mehr sei, sondern selbständiger Unter­nehmer. Seine kommunistische Gesinnung hat er deswegen nicht aufgegeben.

Obwohl Kerle nicht mehr formell Mitglied der KPD war, wurde er dennoch wegen „hochverräterischer Bestrebungen“ am 5. August 1935 von der Gestapo verhaftet und bis zum 24. Dezember 1935 in den Gefängnissen von Konstanz und Mannheim fest­gehalten. Einen Tag nach seiner Freilassung wurde er am ersten Weihnachtstag, am 25. Dezember, erneut verhaftet und in das KZ Kislau in Nordbaden überstellt. Dort war er bis zum 25. März 1936 inhaftiert.

Kerle wurde von der Gestapo als ein „intelligenter, aber starrköpfiger und schwer zu belehrender Mensch“ beschrieben. Mangels Beweisen wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt; am 25. März 1936 wurde er entlassen.
 
Kerle wurde von der Gestapo als ein „intelligenter, aber starrköpfiger und schwer zu belehrender Mensch“ beschrieben. Nach seiner Entlassung konnte er das „Staader Fährhaus“ nicht weiter­führen, weil er keinen Kredit mehr bekam. Am 25. März 1936 unterschrieb Kerle eine Loyali­täts­erklärung, dass er sich „in der marxistischen Bewegung wie überhaupt in jeder staatsfeindlichen Bewegung nicht mehr betätigen und sich dem neuen Staat gegenüber loyal verhalten“ werde.
 
Trotzdem fühlte sich Kerle seines Lebens nicht mehr sicher und floh 1936 über die Schweiz nach Frankreich. In der Stadt Pontoise nordwestlich von Paris wurde er im Dezember 1938 von den Behörden festgenommen und nach Deutschland zurück­geschickt. Offensichtlich hatte er keinen Asylantrag gestellt.
 
Im Herbst 1939 wurde Kerle erneut zweimal im Landgerichtsgefängnis Konstanz inhaftiert: vom 7. bis 19. September und vom 9. bis 14. Oktober. Der Grund für die beiden Verhaftungen konnte nicht eruiert werden.
 
Um weiteren Verfolgungen durch die Gestapo zu entgehen, meldete sich Kerle 1939, obwohl schon 55 Jahre alt, freiwillig zur Wehrmacht. Von 1940 bis 1945 war er bei einer Baukompanie in Polen, Norwegen und Frankreich am Atlantik (Ȋle de Ré) eingesetzt.
 
Vinzenz Kerle war über 8 Monate in Haft.
 
Nach Kriegsende war Kerle wesentlich mitbeteiligt am Aufbau des antifaschistischen Widerstandsblocks in Konstanz. Der Wider­standsblock unter der Leitung des Apothekers und Altstadtrats Bruno Leiner war so etwas wie ein Bürgerkomitee, der sich sowohl der Opfer des Naziregimes annahm als auch akribisch dokumentierte, wer in Konstanz der NSDAP (Gestapo und andere NS-Organisationen) angehört hatte. Der Widerstandsblock, der eine eigene Verwaltung aufbaute und Zeit lang mit der Stadtverwaltung konkurrierte, arbeitete eng mit der französischen Besatzungsmacht zusammen.
 
Obwohl Kerle nur über wenig Verwaltungserfahrung verfügte, setzte ihn die französische Militärverwal­tung unter General de Lattre am 17. Mai 1945 zum Oberbürgermeister ein. Wegen seiner allseits bekann­ten kommunistischen Gesinnung, nicht zuletzt auch wegen seines untadeligen Verhaltens als deutscher Besatzungssoldat in Frankreich gegenüber den Franzosen und seiner französischen Sprach­kenntnisse, die er sich während seines zweijährigen Exils in Frankreichs angeeignet hatte, schien Kerle für die Franzosen der richtige Mann für den demo­kratischen Neubeginn in Konstanz zu sein.

Am 10. Juni verfügte Kerle ohne Absprache mit den Franzosen und der städtischen Verwaltung die Registrierung aller ehemaligen NSDAP-Parteimitglieder auf dem Schottenplatz, was zu großer Unruhe in der Stadt führte.
 
Die Stadtverwaltung unter Leitung von Rechtsrat Franz Knapp war mit Kerle jedoch unzu­frieden, da er ihrer Meinung zu eng mit dem anti­faschistischen Widerstandsblock zusammen­arbeitete. Da auch die Franzosen mit seiner Amtsführung nicht zufrieden waren, weil er sich zu wenig um die von ihnen angeordneten Requisitionen bei Konstanzer Bürgern kümmerte, enthoben sie Kerle am 16. Juni 1945 kurzerhand von seinem Posten und setzten Hans Schneider von der katholischen Zentrumspartei als Oberbürgermeister ein; dieser wurde ein halbes Jahr später, am 1. Januar 1946, durch den Sozialdemo­kraten Fritz Arnold ersetzt.
 
Dennoch wollten die Franzosen nicht auf die Dienste von Kerle verzichten. Einen Tag später, am 17. Juni 1945, machten sie ihn zum besoldeten Stadtrat und übertrugen ihm die Leitung der Technischen Werke.
 
Bei der Gemeinderatswahl am 15. September 1946 trat Kerle mit einer eigenen Liste an: „Vereinigung unabhängiger Sozialisten zur demokratischen Erneuerung“. Die Liste umfasste sieben Kandidaten: Vinzenz Kerle stand auf Platz eins, Heinrich Haug, der wegen seiner KPD-Mitgliedschaft während des Nationalsozialismus länger als 8 Jahre im KZ inhaftiert war, auf Platz zwei der Liste. Aber weder Kerle noch Haug wurden in den Gemeinderat gewählt.
 
Auch beruflich fasste Kerle wieder Fuß; von 1951 bis 1955 führte er das Fährhaus-Cafe in Meersburg.
 
Vinzenz Kerle ist am 25. Juni 1958 in Konstanz gestorben.

Recherche: Uwe Brügmann
Patenschaft: Vera Hemm

Quellen & Literatur:

Staatsarchiv Freiburg, Antrag auf Haftentschädigung, Signatur F 196/1, 728.
ITS Arolsen.
Stadtarchiv Konstanz, Akte S II/13632.
Todesanzeige und kurze Würdigung im „Südkurier“ vom 27.6.1958.
Lothar Burchardt, Dieter Schott, Werner Trapp, Konstanz im 20.Jahrhundert: die Jahre 1914 bis 1945. Konstanz: Stadler 1990.
Jürgen Klöckler, Selbstbehauptung durch Selbstgleichschaltung. Die Konstanzer Stadtverwaltung im Nationalsozialismus.
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