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Stolpersteine Konstanz

Navigation: Steine nach Strassen > Blarerstr. 32 Berta LÖWENSTEIN

Liliana Löwenstein, Rede am 05.10.2015 bei der Verlegung der Stolpersteine für Berta, Heinrich, Kurt und Walter LÖWENSTEIN

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Sehr geehrte Vertreter der Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“,

liebe Frau Brügemann, lieber Herr Seiffert,

sehr geehrter Herr Venedey,

lieber Herr Dr. Engelsing, liebe Frau Dr. Foege,

liebe Claudia, lieber Gerd,

mein lieber Fernando,

liebe Anwesenden,

 

Wisse, woher du kommst und wohin du gehst“ – lehrt uns der Talmud.

Welche Illusionen und Erwartungen führten Heinrich und Berta von Rexingen und Laupheim nach Konstanz? Sicherlich die Gründung einer Existenz und einer Familie in einer größeren Stadt in einer malerischen Umgebung, in der ihre Kinder friedlich und sorglos aufwachsen sollten.

Kurz nach ihrer Hochzeit in Laupheim und Umzug nach Konstanz und trotz des Schreckens sowie der Ängste des Ersten Weltkrieges schenkten sie voller Zuversicht und Hoffnung auf die Zukunft ihren beiden Söhnen das Leben. Die Jungen wuchsen in der deutschen Kultur und im festen jüdischen Glauben auf. 1927 und 1929 hatten Walter und Kurt ihre Bar Mitzva. Ihre Oma Lina schenkte jedem ihrer Enkelsöhne nun ihre eigenen jüdischen Gebetbücher, die sie für das weitere Leben begleiten sollten – und später auch nach Argentinien begleitet haben. Dem Ehepaar Heinrich und Berta waren wahrscheinlich 20 glückliche Jahre zusammen mit ihren Söhnen am Bodensee vergönnt.

Wider Erwarten kam dann das Unglück der Verfolgung über sie: Berufsverbot, damit einher­gehende Verarmung, Notwendigkeit fürsorglicher Unterstützung, schließlich die Vision, ihre Söhne zu retten und ihnen eine bessere Zukunft zu ermög­lichen. Nach Schulabschluss und kurzer Handwerks­lehre traten beide jungen Männer getrennt voneinander und ganz allein auf sich gestellt  die Reise nach Südamerika an. Später folgten in Konstanz – so wie überall in Deutschland – Reichs­pogromnacht, Dachau, Schutzhaft, Judenstern, Judenkennkarte, Judenhaus, Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, Kriegsausbruch, Deportationen, Vernichtung.

Wie schlimm müssen für Berta und Heinrich die Jahre ab Juli 1936 gewesen sein, als sie sich von ihren Söhnen trennten? Noch 10 Tage bevor Kurt seine Eltern verließ, überraschte sie der plötzliche Tod von Walter. In welcher Angst müssen sie gelebt haben, bis Kurt eine Genehmigung in Buenos Aires erhielt, die den Eltern die Einreise nach Argentinien und das Überleben im Exil ermöglichte? In welcher Angst und Verzweiflung muss Kurt gelebt haben, bis es ihm schließlich gelang, am 10. März 1940 seine Eltern vor dem wahrscheinlich sicheren Tod in einem Vernichtungslager zu retten?

Oma Lina blieb in Laupheim zurück. Die letzten 16 Monate ihres Lebens verbrachte sie im jüdischen Altersheim als Zwangswohnsitz, zusammen mit ihrem geistig behinderten Sohn Karl, genau dort, wo ehedem die Jüdische Volksschule, in die sie ihre Kinder geschickt hatte, untergebracht gewesen war. Ihr blieb die Deportation in ein Vernichtungslager dank ihres natürlichen Todes im Januar 1941 zwar erspart, nicht aber ihren Söhnen Karl und Leopold. Beide kamen in Konzentrationslagern gewaltsam ums Leben.

Sicherlich war es ihr starkes und überzeugtes Gott­vertrauen, das ihnen die Kraft gegeben hat zu überleben. Ich selber habe mir des öfteren Gedanken gemacht, ob ich diese furchtbaren Schicksals­schläge, die ich auch aus dem Leben meiner Mutter kenne, hätte überleben können, und ich glaube, ich hätte niemals diese Kraft aufgebracht.

„Wisse, woher du kommst und wohin du gehst“ - lehrt uns der Talmud.

Im Oktober 1993 stand ich schon einmal hier an dieser Stelle, auf der Suche nach meinen Wurzeln, in der Blarerstraße vor dem Haus mit der Nr. 32, fotografierte das Gebäude, und fragte mich, ob meine Großeltern, mein Vater und mein Onkel tatsächlich hier gewohnt haben, ob sie durch diese Straßen, durch das Schnetztor gegangen sind. Meinen Großvater habe ich nicht kennengelernt. Als meine Großmutter starb, war ich vier Jahre alt, als mein Vater starb, acht. Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater und seine Familie sonntags für gewöhnlich einen Spaziergang nach Kreuzlingen machten. Heute habe ich die Gewissheit, dass sie hier gewohnt haben. Wie wären ihr Leben und mein Leben gewesen, wenn sie Konstanz niemals hätten verlassen müssen?

Würde ich vielleicht heute in dieser Stadt leben, vielleicht in diesem Haus wohnen? Als ich 1993 in Konstanz das erste Mal aus dem Zug stieg, hatte ich fast instantan das Gefühl, dass ich hier leben könnte oder hier schon einmal gewesen war. Auf sonderbare Art und Weise fühlte ich mich nicht fremd. Auch wenn ich weder mit meinem Vater noch mit meinen Großeltern jemals darüber sprechen konnte, so ist Konstanz auf ganz besondere Weise tief und fest in meinem Herzen verankert!
 

WISSE, WOHER DU KOMMST UND WOHIN DU GEHST –

Das gilt für mich, sowie gleichermaßen für alle vertrie­benen und verfolgten Familien.

Ebenso gilt es für die jungen und nachkommenden Generationen. Jüdische Deutsche gehörten auch zum deutschen Volk und haben ihre Spuren für uns Alle hinterlassen. Stolpersteine sind im 21. Jahrhundert für mich persönlich die Ermahnung für das Nicht-Vergessen und für die aktive Erinnerung

Deshalb verlegen wir heute hier diese 4 Stolper­steine, und geben damit Heinrich, Berta, Walter und Kurt ihre Identität in dieser Stadt zurück, in der sie von ihrer Staatsangehörigkeit beraubt wurden, aber in der neuen Heimat auch weiterhin Deutsche blieben und darauf verzichteten, eine neue Staatsange­hörigkeit, die argentinische, anzunehmen. Der damalige deutsche Gesetzgeber beschloss, dass jüdische Deutsche beziehungsweise deutsche Juden ihre Staatsangehörigkeit als Deutsche nur durch Antrag auf Wiedereinbürgerung wieder erwerben könnten. Am 26. November 1953 erteilte schließlich das Landratsamt Konstanz Heinrich und Berta sowie Kurt ihre deutsche Staatsangehörigkeit zurück.

 

Diesen Moment heute hier hatte ich mir nie zuvor in meinem Leben ausgemalt, und ich bin sehr glücklich, diesen Weg zurück zu meinen Vorfahren in Konstanz und Laupheim gefunden zu haben. Ich möchte mich ganz besonders bei Herrn Günter Demnig sowie bei den Vertretern der Stolpersteininitiative Konstanz für diesen zusätzlichen Verlegetermin in diesem Jahr bedanken, ebenso wie bei Herrn Dr. Engelsing und Frau Dr. Foege dafür, dass Sie mich mit Ihrem Ausstellungsprojekt „Das jüdische Konstanz- Blütezeit und Vernichtung“ erneut dazu bewegt haben, mich mit meiner Herkunft, der Geschichte meiner Familie und dem Schicksal meiner Großeltern, Eltern und Verwandten, tiefer auseinanderzusetzen. In meiner eigenen Geschichte bin ich hierdurch um Einiges reicher geworden.

Liebe Claudia, lieber Gerd, an Euch ein ganz besonderes und herzliches Dankeschön für Eure Begleitung auf diesem Weg meines Lebens!

Vielen herzlichen Dank an alle heute hier Anwesen­den für Ihre und Eure Anteilnahme!

 

 

Liliana Löwenstein
(Tochter von Renate und Kurt LÖWENSTEIN