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Stolpersteine Konstanz

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Blarerstraße 32

109 Jahre steht dieses Haus

die Geschichte lebt in meinen vier Wänden

und ich lebe mit ihr

 

Tränen

sind  in die Fugen des Parketts geflossen

die Zwischenräume

werden größer

im Laufe der Zeit

 

1906 1916 1936

nun sind es acht

Stolpersteine

vor meiner Türe

 

vielleicht hilft es

den Schmerz auf weiße Rosen zu betten

die auf den Steinen

niedergelegt werden

 

 

Blarerstraße 32

Ich sitze am Küchentisch und lese im Manuskript von Herrn Seiffert:  

"Das Ehepaar Heinrich und Berta Löwenstein, geb. Guggenheimer, war kurz nach der Heirat Ende 1912 nach Konstanz gezogen mit der Wohnadresse Blarerstraße 32. In Konstanz kamen dann die Söhne Walter im Jahr 1914 und Kurt im Jahr 1916 zur Welt."

 

5. Oktober 2015.

4 Quader mit Messingoberfläche, gold glänzend, vielleicht 15 mal 15 Zentimeter liegen auf dem Bürger­steig. Die Kreissäge kreischt, um das Loch im Boden auf die richtige Größe zu schneiden. Die Umstehenden halten sich die Ohren zu. Es wird Hand angelegt, um die Quader in den Boden einzulassen, ihnen eine Heimstatt zu geben, ihnen einen Platz vor dem Haus zu verschaffen, in dem sie einst wohnten, die Löwensteins.

 

Liliana Löwenstein ergreift das Wort, die Tochter von Kurt.  Mitte der 90ger Jahre stand sie vor diesem Haus auf der Suche nach ihren Wurzeln. Stand davor und hat es fotografiert, sich gefragt, ob in diesem Haus ihr Vater aufgewachsen sei, ob dies seine Heimat war, er durch diese Straßen als Junge rannte. 8 Jahre war sie alt, als ihr Vater starb. "Wisse Mensch, woher Du kommst und wohin Du gehst" zitiert sie den Talmud. Es ist diese Aufrichtigkeit und emotionale Tiefe in ihren Worten und ihrer Stimme, die Herzlichkeit, die durch ihre graublauen Augen strahlt, die mich bewegen. Sie spricht deutsch. Es ist ihre Muttersprache. Sie sitzt in unserer Küche zusammen mit ihrem Mann Fernando und ihren Freunden. Sie übersetzt unser Gespräch ins Spanische für Fernando.  Irgendwie gehört sie hier an diesen Ort. Später erfahren wir, dass ihre Familie in unserer Wohnung im 2. Stockwerk gelebt hat.

 

Blarerstraße 32

Der letzte frei gewählte Wohnsitz.

Die Eltern spürten, dass es keine Zukunft mehr für ihre Söhne in diesem Land gab. Selbst schon verarmt durch das Berufsverbot, setzten sie alles dran, dass ihre Söhne nach Argentinien ausreisen konnten. Der Ältere zuerst, März 1936 Abfahrt über Le Havre, Frankreich. Die Nachricht seines Todes erreichte die Familie kurz bevor der jüngere Sohn aufbrach. In Buenos Aires war er noch angekommen, doch dann starb er an den Folgen einer unbehandelten Krank­heit 3 Monate später.

Die Mutter wird hier am Küchentisch gesessen und geweint haben, denke ich, wie Mütter weinen, wenn es ihnen das Herz zerreißt, weil ihr Sohn  allein und in der Fremde stirbt und nun auch der Jüngere aufbricht, weil keine Wahl bleibt.

Blarerstraße 32

März 2008

Es ist sein 83. Geburtstag, als er in die Blarerstraße zurückkehrt, die er als 13- Jähriger verlassen hat.  Er wohnte mit seinen Eltern und seiner Schwester im ersten Stockwerk des Hauses. 4 Steine werden für seine Familie verlegt. Auf einem Stein steht sein Name:  

HIER WOHNTE

FRITZ OTTENHEIMER

JG. 1925

FLUCHT 10.5.1939

USA

ÜBERLEBT

 

"Meine Rückkehr in die Blarerstraße 32 war viel angenehmer als meine Abfahrt in 1938" schreibt er in einer E-Mail, wieder zurück in den USA.

Er trägt einen schwarzen Hut. Aufrecht, voller Würde, innerer Größe, Lebenserfahrung, so sehe ich ihn vor mir. Mit lebendigen Augen verfolgt er das Geschehen. Er kommt mit seinen Kindern und Kindeskindern. Ja, hier war der Lebensmittelladen, hinter dem Haus begann das Feld.  

Ich werde Zeugin seines Erinnerns, Zeugin seines Versuchs, genau hinzuschauen,

Zeugin seiner nicht zu beantwortenden Fragen, wieso es dieselben Menschen sein können, Klassen­kameraden, Nachbarn, die ihn heute mit offenen Armen empfangen, die damals auch nicht mehr im Laden seines Vaters einkaufen gingen, die Straßen­seite wechselten, zuließen, dass die sich im 1. Weltkrieg für Deutschland verdient gemachten Väter Heinrich Löwenstein und  Ludwig Ottenheimer am 10. November 1938 für zwei Monate in das KZ Dachau verschleppt wurden. Als der Vater zurückkam, war er ein anderer. Wie geht das? Er erzählt seine Geschichte im Wolkensteinsaal, im KULA vor Jugend­lichen, in den USA in Schulen.

Er, der überlebte, dessen Überleben zum Auftrag wurde.

Eine Kaffeetafel bei uns im Wohnzimmer. Familienfeier in dem Haus, das einmal seine Heimat war.

 

Nun wohne ich in der Blarerstraße 32.
Was bleibt mir?

Mir bleibt, mich berührt zu fühlen, in diesem Haus zu wohnen, in dem Fritz Ottenheimer und die Familie von Liliana Löwenstein gelebt haben. Überlebende.

Mir bleibt, die Wucht und die Sprachlosigkeit zu spüren, dass auch sie, wären sie nicht rechtzeitig geflohen, wie die meisten ihrer Verwandten und Freunde von Vertretern des deutschen Volkes erbarmungslos umgebracht worden wären.  

Mir bleibt, im Spannungsfeld zu leben, die Folgen der NS-Diktatur auch an den Kriegskindern zu spüren, die in der Nationalität der Täter beheimatet sind.  

Mir bleibt, mir ein Beispiel zu nehmen an Menschen wie Fritz Ottenheimer und Liliana Löwenstein, Menschen, die nicht aufhören, diese Welt mitzugestalten und ihre Lebenserfahrung und ihre Weisheit einzubringen.

 

Ich werde am 9. November zum Gedenken an die Reichspogromnacht bei den Stolpersteinen in der Blarerstraße sein

 

 

 

 

 

Gabriele Meseth